Wozu ein Kunstverein auf dem Land?

1. Notizen aus der Provinz

Seit ich aus der Stadt aufs Land gezogen bin, wurde ich immer wieder mit dem Begriff „Provinz“ konfrontiert. Nachdem mir erst die echte Provinz, dann Lüneburg und am Ende selbst Hamburg als Provinz untergejubelt wurden, habe ich beschlossen, dass diese Art von Kategorisierung sinnlos ist. Provinz ist offensichtlich etwas, das in den Köpfen stattfindet und vordringlich benutzt wird, um a) jede Art von Ort zu diskreditieren oder b) sich selbst omnipotent über alles Provinzielle zu erheben. Für eine inhaltliche Diskussion über Orte, an denen Kunst stattfindet, ist der Begriff also unbrauchbar.

2. Stadt, Land (Flucht)

Die meisten Menschen außerhalb von Extremen haben eine gemischte Stadt/Land-Biographie. In meinem -wie ich denke typischen- Fall ist es eine Kindheit und Jugend, die  auf dem Land verbracht wurde, das fluchtartige Verlassen desselben, um viele Jahre in verschiedenen Städten zu verbringen, die Rückkehr aufs Land jenseits der 40 und der leicht verärgerte Vorwurf an sich selbst, warum man nicht schon viel früher rausgezogen ist. Dazu, als Absicherung für die zurückgebliebenen Freunde in der Stadt die leicht überhebliche Ankündigung, dass man natürlich einmal im Monat ein Wochenende in Hamburg verbringen würde, um kulturell und überhaupt auf dem Laufenden zu bleiben.

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3. Hinter dem Horizont geht´s weiter (vom Verlassen der Komfortzone)

In Hamburg war ich Mitglied im Literaturhaus und häufiger Gast bei Lesungen. Außerdem bin ich sehr gerne ins Kino gegangen und vielleicht auch mal in die Deichtorhallen, um eine Foto-Ausstellung zu sehen. Ich habe das alles sehr genossen, aber ich bin auch meistens auf dem mir vertrauten Terrain geblieben.

Dieses Terrain musste ich in Tosterglope öfter verlassen. Getreu dem Motto „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“, konnte ich mich entscheiden, mich auf Dinge einzulassen, die mir manches Mal zu abgehoben, zu sperrig, zu laut, zu unverständlich und sogar irgendwie angsteinflößend vorkamen – oder es zu lassen. Dadurch, dass der Kunstraum eine Art Leuchtturmfunktion in der Region innehat, ist es nahezu der einzige Ort, um außergewöhnliche, avantgardistische und vielschichtige Kunst zu erleben. Die Alternativen sind mehr als dünn gesät; wo ich in Hamburg eine Wahl gehabt hätte, wurde ich hier immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt: nimm dies – etwas anderes gibt es nicht.

Und das war mein Glück. Gegen teilweise große innere Widerstände, mit manchmal schweißnassen Handflächen und einem diskreten Finger im Ohr, wenn es doch zu laut wurde, habe ich mich durch einige der letzten Veranstaltungen getrotzt. Und es hat sich immer gelohnt. Ich habe nie so viele intensive, bereichernde und beglückende Kunst-Momente erlebt wie hier. Momente, die ich mir im wahrsten Sinne des Wortes erarbeiten musste, dadurch, dass ich mich wirklich öffnete und auf etwas einließ, das mir bislang fremd war.

Dies galt im Besonderen für die Videokunst von Jennifer Bornstein, bei der ich erst beim wiederholten Ansehen ein Türchen erwischte, welches sich dann aber Stück für Stück zu einem unendlichen Raum hin öffnete und eine Fülle von Assoziationen und Gedanken über das Wesen des  „Nicht“-Kunstwerks und über das Verschwinden entstehen ließ und mich mit immenser Komplexität und Tiefe begeisterte.

Das Solo-Percussion-Konzert mit dem hinreißenden Max Riefer hat mir nicht nur die regelrechte Panik vor zeitgenössischer Musik genommen, sondern mir vor allem die Bandbreite dieses Genres vor Augen geführt und mich dazu gebracht, mich auf YouTube nach noch mehr Schlagwerk-Musik umzuhören. So fasziniert war ich am Ende von einem Konzert, zu dem ich ursprünglich gar nicht gehen wollte.

Die Klang-Performance von KLANK und die Freude über das Geräusch abrollenden Tesa-Films (das Billige! Nicht das Original!) und darüber, vier erwachsene Männer zu erleben, die auf Knien über den Boden robben, um aus einem Fundus aus Müll und Flohmarktwaren Klangwelten zu erzeugen.

Der sinkende Mut, mit dem ich die Planzeichnungen und Modelle von Torben Ebbesen in Lüneburg betrachtete und das Glücksgefühl, in Tosterglope seine Skulpturen zu entdecken, die ganz ohne Umwege spannende und tiefgründige Geschichten zu erzählen wussten über das Verhältnis von Mensch und Natur.

All diese Erlebnisse hatten etwas gemeinsam: sie wirkten wie ein Impuls, eingefahrene Wege zu verlassen, Perspektiven zu verändern, Grenzen zu überschreiten, Neues zu wagen und zu entdecken. Was gibt es Besseres über Kunst zu sagen?

Die besondere Atmosphäre im Kunstraum trägt entscheidend zum Gelingen dieser grenzüberschreitenden Momente bei. Das gemeinsame, unvoreingenommene Erleben und die anschließenden Gespräche darüber bilden das Herzstück dafür. Nichts ist eitel, nichts elitär, nichts hierarchisch, dafür gibt es Zeit und Raum genug für eine persönliche, echte und lebendige Auseinandersetzung mit Kunst.

Das ich für diese Erlebnisse aufs Land ziehen musste, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Aber jetzt kann ich alles haben – weite Horizonte um mich herum und in mir drin.

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www.kunstraum-tosterglope.de